Von den Bildern, hinter den Bildern - Zur Malerei von Sabine Christmann

Adrienne Braun, 2007

 

Blau ist in der christlichen Ikonografie die Farbe Marias, der Mutter Gottes. Weiß steht für Unschuld, für jungfräuliche Empfängnis. Ist es Zufall, dass Sabine Christmann ausgerechnet Tüten in Blau und Weiß malt? Wundertüten, in denen kostbare Schätze, Heiligtümer stecken könnten. Tüten, so die offizielle Definition, sind „verformbare Transportbehälter zur Verpackung loser kleinerer Gegenstände“. Viele Tüten, die Sabine Christmann malt, sind für Bücher vorgesehen, also geistige Botschaften, oder für kleine Kunstobjekte aus dem Museumsshop – Form gewordene Ideen.

Kunst, behauptete Paul Klee, gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Indem Sabine Christmann Plastiktüten wie Stillleben inszeniert, werden diese ruhig gestellt und ihrer primären Aufgabe beraubt, sodass die ideelle Funktion sichtbar wird. Tüten sind nämlich längst nicht nur „verformbare Transportbehälter“, sondern repräsentieren die Verheißungen der Konsumindustrie. Sie symbolisieren das Versprechen auf persönliche Befriedigung. Die Schrift dient zwar auch zu Werbezwecken, in erster Linie aber definiert sie den Träger als Teil eines spezifischen kulturellen Kollektivs. Nicht der Inhalt, die Tüte selbst ist die Trophäe, die zur Schau gestellt wird als Beweis, dass man am Konsum teilhat, dass man ein erfolgreiches Mitglied des Sozialverbandes ist.

Laut Friedrich Nietzsche erhebt die Kunst ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Religiöse Gemeinschaften beziehen ihren Sinn aus dem Glauben, die moderne Leistungsgesellschaft dagegen aus dem Konsum. Sabine Christmann erklärt die Insignien dieser Konsumgesellschaft für bildwürdig. Die Tüten, die sie – vordergründig – nach rein ästhetischen Kriterien auswählt, sind Botschafter einzelner Marken, die für eine Lebenshaltung stehen. So, wie das Kreuz die Zugehörigkeit zum Christentum sichtbar macht, so vermittelt die Tüte, wie sich ein Individuum in der Gesellschaft verortet beziehungsweise verorten lassen will. Jede Tüte, ob aus dem Discounter oder der Museumsbuchhandlung, konnotiert etwas, der Träger der Tüte nutzt dieses Konnotat zur Konstruktion seiner Identität: Wer eine Tüte vom Guggenheim-Museum zur Schau stellt, will als polyglotter Kulturbürger erkannt werden, während die Tüte aus der Buchhandlung Bildung, Kaufkraft und Reflektionsvermögen insinuiert. Tüten sind explizite Statussymbole.

So werden Tüten zu Doppelgängern ihrer Träger und zu Protagonisten der modernen Welt. Entsprechend besitzen sie in den Gemälden von Sabine Christmann nicht nur auratischen Glanz, sondern scheinen selbst als Figuren zu fungieren, die sich dem Betrachter wie auf dem Catwalk zeigen, sich präsentieren, gegenseitig verdrängen, verstecken oder manchmal auch müde in die Knie gehen. Die Tüten, so könnte man folgern, haben die Menschen verdrängt, ersetzen sie, weil deren Identität ohnehin nur noch bestimmt wird von dem, was sie shoppen.

Die Malerei Sabine Christmanns spiegelt diese Zurschaustellung materieller Potenz und macht die Oberflächenwirkung auch zum Thema der Malerei selbst. Dabei geht es nicht um das fotografische Abbild. Die Stillleben sind vielmehr sichtbar inszeniert auf einer glänzenden Fläche, die als Spiegel fungiert und über diese zweite Ebene auf den schönen Schein, die auratische Kraft der profanen Objekte hinweist. So gerät Christmann von der Mimesis zu einem abstrakten Denkraum: Ihre Kunst macht nicht nur das Sichtbare sichtbar, sondern spielt auch an auf das Spiel mit dem Schein, mit dem Sich-Spiegeln, der Illusion.

Zugleich geht es Sabine Christmann auch um die Malerei an sich. Sie reiht sich bewusst ein in die Tradition: Sie verschreibt sich einerseits der Feinmalerei, die detailverliebt kulinarische Reize provoziert. Zugleich arbeitet sie rigoros die Lichtwirkung der Motive heraus und nimmt wie ein impressionistischer Bildhauer jede Brechung des Lichts auf der Oberfläche der Objekte auf, mögen die Faltungen und Knitter noch so komplex sein. Eben jene Falten rücken die Malerei wiederum in die Nähe der Gotik: Sabine Christmann widmet sich ihnen in derselben Leidenschaft wie Kollegen früherer Zeiten den Faltenwürfen ihrer Madonnenbilder. Jeder Knick einer alternden Tüte wird bei Christmann versiert herausmodelliert, als handle es sich um kostbares Tuch, Brokat, Gold, jede Gebrauchsspur verwandelt sie in ein sinnliches Schauspiel, bei dem zugleich haptische und akustische Eindrücke evoziert werden.

Auch die in sich verschraubten Tücher in weiß und blau-weiß-gestreift lassen sich in ihrem Volumen, ihrer Stofflichkeit be-greifen, so plastisch und präzise sind die spezifischen Eigenschaften des Materials in den Vordergrund gerückt. Wieder lässt sich Nietzsche anführen: Die Faltenwürfe der Gotik versuchen, den Glauben zu zementieren, die Malerei, die die Religion nicht mehr als Thema hat, kommt zu sich selbst – als reines ästhetisches Erlebnis.

Sabine Christmann erzeugt Spannung, indem sie die traditionellen Gattungen nutzt, die Motive aber aktualisiert. So handelt es sich bei den abgemalten Milchtüten letztlich um Tiermalerei, aber auch hier ist die Spiegelung wieder ein Hinweis: Die Darstellung der Kuh – und mit ihr die heutige Wahrnehmung – erfolgt nicht unmittelbar, sondern meist aus zweiter Hand. Ein „Imago“ wird dazwischen geschaltet, ein Bild, das Information mit Emotion zu kommerziellen Zwecken verknüpft. Das, was in der modernen Gesellschaft als Realität wahrgenommen wird, so zeigt Christmann, ist medial beziehungsweise kommerziell gespiegelt.

Die Glasflaschen, die Sabine Christmann porträtiert, spielen wiederum auf die Vanitas-Symbole des barocken Stilllebens an. Glas bricht und vergeht. Während sich der barocke Lebemann allerdings an üppig gedeckten Tafeln verlustierte, aus kunstvoll verzierten Gläsern schwere Weine zu deftigen Speisen trank, bevor der Tod alles dahinrafft, erinnern die Stillleben Sabine Christmanns eher an die Lust des Verzichts. Der Gesundheitsapostel des 21.Jahrhunderts übt sich in Selbstkasteiung, das reine, klare Mineralwasser ist ihm Synonym für Gesundheit und Fitness – und verspricht, den Tod zwar nicht abzuwenden, aber doch hinauszuzögern. Zugleich rettet Sabine Christmann bei ihren Flaschenporträts ein Stück verschwindender Alltagskultur – auch Glasflaschen mit individuellem Design werden zunehmend von standardisierten Kunststoffflaschen verdrängt - in der Malerei konserviert Christmann sie für die Nachwelt.

Neben der Auseinandersetzung mit Alltag und Konsum, Schein und Zurschaustellung schwingt in der Malerei von Sabine Christmann aber immer auch ein poetisches Moment mit und zeigt sich eine zarte Schönheit jenseits aller Funktion und Funktionalisierung. Sie legt den ästhetischen Gehalt des Profanen frei, macht sichtbar, dass die schnöde Dingwelt neben der Zweckmäßigkeit auch eine sinnliche Qualität besitzt, die zu entdecken sich lohnt. Reduziert auf ein Minimum an Farben und Formen entwickelt sie ein Maximum an malerischen Reizen.

Sabine Christmann dokumentiert nicht, sondern verwischt vielmehr die Spuren ihrer Versuchsanordnungen. Wie entrückt, wie losgelöst von Raum und Zeit wirken die Motive nun als stille Helden einer geheimnisvollen Welt jenseits unserer Wirklichkeit – als wäre es die Welt, die hinterm Spiegel liegt, eine zweite, märchenhafte Realität.